Von 1909 bis 1953 rollte eine elektrische Straßenbahn auf 2 Linien durch Gießen. Die Gesamtbaukosten beliefen sich auf 540.000 Reichsmark und die Arbeiten konnten in wenigen Monaten im Jahre 1909 durchgeführt werden, nachdem der Bau erst 1908 in der Stadtverordnetenversammlung beschlossen wurde. Die Siemens-Schuckert-Werke wurden mit der Planung und dem Bau beauftragt. Damals hatte Gießen knapp 32.000 Einwohner*innen.
Linienverlauf und Beschaffenheit
Neben der grünen Linie, die zum Friedhof Wieseck fuhr, gab es die rote Linie, die vom Bahnhof kommend am Marktplatz die grüne Linie kreuzte und weiter durch die Neuen Bäue, über den Ludwigsplatz und die Licher Straße bis hoch zum Schützenhaus an der Kaiserallee führte, wo sich damals die neue Kaserne befand. Die rote Linie verkehrte im 7,5-Minuten-Takt auf einer eingleisigen Strecke von 3467 Metern und bediente circa alle 300 Meter eine von insgesamt 13 Haltestellen. Der gesamte Straßenbahnbetrieb wurde mit zwölf zweiachsigen Triebwagen betrieben, die je 16 Sitz- und 20 Stehplätze boten. Die Fahrzeit für beide Linien lag bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von elf Kilometern pro Stunde bei 16 Minuten.
Die Straßenbahn galt zunächst sehr modern, denn sie besaß eine »doppelte Kreuzungsweiche« am Marktplatz, die eine Umleitung der Wagen in alle Richtungen erlaubte, sowie bereits eine elektrisch verstellbare Weiche an der Verzweigung Bahnhofstraße/Liebigstraße. Das Depot war an der Stelle der heutigen Gabelsbergerstraße, an der sich heute noch das SWG-Betriebsgeländes befindet.
Die Straßenbahn in der Weimarer Republik
Von Oktober 1923 bis Ende Juni 1924 musste der Straßenbahnbetrieb wegen Inflation und Kohlemangel im Elektrizitätswerk eingestellt werden. Im Jahr 1927 wurde die rote Linie um 200 Meter verlängert und reichte von der Volkshalle bis zur Artilleriekaserne (heutiges Sportzentrum). Als besonders bedeutendes Ereignis kann 1932 die Anbindung der Gemeinde Wieseck bezeichnet werden. Diese wurde bereits seit 1925 durch eigene Omnibusse bedient und am 22. Dezember 1932 konnte der offizielle Betrieb starten. Damit wurde die maximale Ausdehnung des Straßenbahnnetztes erreicht.
Ab dem Jahre 1937, in welchem auch die Reichsautobahn eröffnet wurde, erhielt die Straßenbahn Unterstützung von neu gekauften Bussen. Mehr als 4 Millionen Passagiere nutzten im Jahre 1940 die Straßenbahn, was einer täglichen Beförderungsmenge von über 11.000 Menschen bei knapp 40.000 Einwohner*innen entspricht.
Niedergang und Stilllegung
Die erste Straßenbahnlinie in Gießen wurde am 18. April 1941 stillgelegt und durch einen Omnibus
ersetzt: der Abschnitt der grünen Linie zwischen Bahnhof und Marktplatz über die Haupteinkaufsstraße Seltersweg. Dadurch konnte die rote Linie bis zum 2. Juni desselben Jahres auch die Strecke vom Marktplatz zur Grünberger Straße bedienen, bevor sie endgültig stillgelegt wurde. Die neuen Omnibuslinien erhielten Liniennummern – so auch die Straßenbahn der grünen Linie, die ab 1945 zur Linie 5 wurde. Diese Nummer trägt noch heute der nach Wieseck verkehrende Omnibus. Der verheerende Luftangriff am Nikolaustag 1944 bedeutete das vorläufige Ende des Nahverkehrs in Gießen: Schienen, Oberleitungsdrähte, Depot – alles
war zerstört oder nicht mehr nutzbar. Der Stadtkern lag weitgehend in Trümmern und war damit regelrecht unpassierbar für den Verkehr.
Nach dem Einmarsch amerikanischer Streitkräfte am 27. März 1945 erfolgte der Wiederaufbau der Straßenbahn. Der Betrieb zwischen Walltorstraße und Wieseck wurde schon am 31. August wieder aufgenommen, die Strecke zwischen Bahnhof und Marktstraße folgte am 1. Dezember dieses Jahres. Aufgrund der Trümmerberge war die Strecke um den Marktplatz weiterhin unterbrochen; erst am 15. Februar 1947 konnte sie endgültig geschlossen werden. Die Gleise wurden umfangreich erneuert und 1951 völlig neu gebaut (Marktplatz). Trotz all dieser finanziell anstrengenden Maßnahmen blieb die Straßenbahn zwischen Marktplatz und Friedhof bzw. Wieseck nur ein Jahr in Betrieb (21 Oktober 1952). Angesichts der schlimmen wirtschaftlichen Verhältnisse war es umsonst gewesen, die Straßenbahn wieder aufzubauen. So fuhr dann nach zwei überstandenen Weltkriegen am 03.04.1953 die letzte Straßenbahn mit geschmückten Wagen vom Bahnhof zum Walltor zum Nulltarif.